Das Wunderkind des 20. Jahrhunderts

Wunderkinder faszinieren das Publikum schon seit Jahrhunderten. Unglaubliche Höchstleistungen an Geige, Klavier oder anderen Instrumenten – meist ähneln die talentierten Kleinen dabei gut dressierten Zirkuspferden. Nur wenige dieser Frühreifen können als Erwachsene halten, was sie im Kindesalter versprechen: Eine berühmte Ausnahme ist Wolfgang Amadé Mozart, der heute fast schon als Synonym für „Wunderkind“ gilt. Er begann unter Anleitung seines Vaters als Fünfjähriger mit dem Komponieren.

So beeindruckend das aber auch ist, Wolferls früheste Stücke sind, ganz ehrlich, bescheiden in Umfang und Ausdruck:

Und wie sieht es aus knapp zehn Jahre später? Im Alter von 15 Jahren bewegt sich Mozart immer noch ganz im Rahmen des Konventionellen – hier der letzte Satz der „Sinfonie in F-Dur“ (immerhin schon seine dreizehnte):

Schöne Musik, ohne Frage. Doch vergleichen Sie nun einmal das Finale aus Mozarts Sinfonie mit dem Scherzo aus der Sinfonietta eines gewissen Erich Wolfgang Korngold – und raten Sie, wie alt der Komponist zum Zeitpunkt ihrer Entstehung war:

Richtig: Korngold war, als er diese Musik schrieb, genauso alt wie Mozart, ein Teenager von 15 Jahren!

Nun ist natürlich der Zeitstil 1770 ein anderer als um 1900. Aber dass der kleine Korngold eine musikalische Ausnahmeerscheinung war, erkannten auch die Zeitgenossen.

Der Sohn des berühmten (und gefürchteten) Wiener Musikkritikers Julius Korngold erregte schon früh ehrfurchtsvolle Bewunderung: Gustav Mahler bezeichnete den Neunjährigen als „Genie“, Richard Strauss empfand „Schrecken und Furcht“ angesichts der Begabung des kindlichen Konkurrenten, Engelbert (Hänsel und Gretel) Humperdinck schwärmte von einem „Wunderkind aus dem Feenreich“. Kaiser Franz Joseph befahl, das Ballett Der Schneemann des 13-Jährigen an der Hofoper aufzuführen. Und Puccini schließlich stellte nüchtern fest: „Er hat soviel Talent, dass er uns leicht die Hälfte davon abgeben könnte – und es bliebe immer noch genug davon übrig für ihn selbst“.

Ebenso bemerkenswert wie seine Begabung ist aber des jungen Korngold Vielseitigkeit: Im Gegensatz zu einigen Kollegen verschmähte er von Beginn an kein musikalisches Genre. Gleich sein Opus 1 ist kein sinfonisches Großfeuerwerk, sondern Kammermusik vom allerfeinsten, ein zartes, kraftvolles, originelles Klaviertrio. Das Werk eines Zwölfjährigen – und doch in jeder Hinsicht bereits „vollendet“:

Das hat kein Zeitgenosse besser gemacht, egal, welchen Alters. Korngold ist von Anfang an ein erwachsener, reifer, ernstzunehmender Komponist.

Und was wurde nun aus dem Wunderkind Korngold?

Nun, zunächst wurde Korngold einer der erfolgreichsten und meistgespielten Komponisten seiner Zeit: Führende Pianisten interpretierten seine Sonaten und Kammermusik, große Dirigenten rissen sich um seine Orchesterwerke, gefeierte Primadonnen und Startenöre um seine Opern. Höhepunkt: „Die Tote Stadt“. Da war Erich Wolfgang Anfang zwanzig und dies hier ist das berückende Duett „Glück, das mir verblieb“:

Ebenso wunschkonzerttauglich das Tanzlied des Pierrot „Mein Sehnen, mein Wähnen“, ebenfalls aus „Die Tote Stadt“:

Sie merken, nicht umsonst wuchs Korngold im Land der Sachertorte auf! Mit solchen Melodien wickelte er das Publikum um den kleinen Finger. Korngold macht süchtig.

Noch nicht genug? 1927 hatte die nächste Oper Korngolds Premiere, Das Wunder der Heliane. Wieder ergießt sich ein musikalischer Strom spätestromantischer Üppigkeit, besonders schön in der Arie „Ich ging zu ihm“, einem Hit aus dem zweiten Akt:

Doch dann verließ Korngold das Glück.

Komponisten wie Ernst Krenek, Kurt Weill, Igor Stravinsky, Paul Hindemith und andere wurden tonangebend im wörtlichen Sinn, „Neue Sachlichkeit“ und Neoklassizismus waren die angesagten Stile. Korngold schien nicht mehr auf der Höhe der Zeit, agressive Kampagnen seines Kritiker-Vaters gegen die musikalischen „Gegner“ des Sohnes verprellten die Musikwelt. Wachsender Antisemitismus schlug ihm entgegen, die Machtergreifung der Nazis bedeutete Berufs- und Aufführungsverbot des Dirigenten und Komponisten in Deutschland.

Eine Karriere als Filmkomponist, begonnen in den 30er-Jahren, und ab 1938 das amerikanische Exil rettete Korngold und seiner Familie das Leben.

Und was für eine Karriere! Handstreichartig erfand der Wiener den Soundtrack Hollywoods, setzte Standards für Jahrzehnte:

Noch in den Partituren eines John Williams (Star Wars) hört man diesen Einfluss.

Doch der Erfolg hatte einen hohen Preis: Korngold war zwar in Hollywood hochverehrt und oscar-ausgezeichnet, aber der Komponist sehnte sich nach seinem alten Wien. Er hoffte, nach Kriegsende an seine frühen Erfolge anknüpfen zu können und schrieb, Melodien aus seinen Filmen verwendend, 1945 ein Violinkonzert – virtuos, schwelgerisch, schwungvoll:

Man hört, es ist alles noch da, ungebrochen und im Überfluss: der melodische Schmelz, der saftige Sound, die romantische Emphase. Das ist, neben seiner Frühreife und seiner Vielseitigkeit, das dritte und vielleicht Erstaunlichste an Korngold: Einmal gefunden, hat er seinen musikalischen Stil ein ganzes Leben lang beibehalten. Das Kind komponiert nicht wesentlich anders als der End-Fünfziger.

Aber die Welt hatte sich unbarmherzig weitergedreht: Das Comeback floppte, ein zutiefst frustrierter Korngold musste schnell feststellen, dass seine Musik nicht mehr interessierte, dass er im halb zerstörten Wien nicht mehr willkommen war, und dass die Tätigkeit für die Filmindustrie seinen Ruf als seriöser Komponist gründlich ruiniert hatte.

Er starb 1957 an einem Infarkt – man kann wohl sagen, an gebrochenem Herzen. Hinterlassen hat er ein reiches Werk, das seit einigen Jahren nach und nach wiederentdeckt wird (ausgehend ausgerechnet vom zunehmenden Interesse an Filmmusik – ein Genre, das er ebenso unfreiwillig wie maßgeblich mitgeprägt hat).